Senioren Blog – Ein Dörfli voller Möglichkeiten

Blind seit ihrem zehnten Lebensjahr, hatte Ursula Graf sich eine beeindruckende Karriere und ein Leben in Unabhängigkeit erkämpft. Sie machte eine kaufmännische Ausbildung, studierte Theologie und arbeitete als reformierte Blindenseelsorgerin und Diakonin.
Doch dann kam das Jahr 2022: Eine Operation führte zu einer Sepsis, und plötzlich war nichts mehr wie zuvor. Ursula musste neu lernen, wie man den Alltag bewältigt – diesmal im Rollstuhl. Sie, die immer auf eigenen Beinen stand, musste sich nun komplett umstellen. Doch wenn jemand weiss, wie man aus Steinen, die einem das Leben in den Weg legt, eine Brücke baut, dann ist es Ursula. Mit einem entschlossenen «Jetzt erst recht!» nahm sie die Herausforderung an. Und so führte ihr Weg sie schliesslich in die Oase Rümlang, einen Ort, den sie heute liebevoll ihr «eigenes Dörfli» nennt.
Hier begann ein neues Kapitel. Ursula ist wissbegierig und lebt nach dem Motto: «Es ist fast alles möglich, wenn du ein Ziel hast.» Und so überraschte Ursula schon kurz nach dem Einzug alle: Mit ihrer schnellen Auffassungsgabe brachte sie sich in kürzester Zeit bei, eigenständig mit dem öffentlichen Verkehr zu reisen. Anfangs noch unsicher, fährt sie heute mit Zug und Tram quer durch die Region, sei es nach Uster zur Physio, nach Zürich oder einfach ins Grüne. Die Reise mag nicht immer einfach sein – nicht-ebenerdige Ausstiege bei den Trams sind oft eine Herausforderung –, aber für Ursula ist jeder Tag eine Chance, ihre Autonomie weiter zu stärken. Die Beschaffenheit des Bodens, das Rauschen von Bächen und der Duft von Feldern helfen ihr jedoch jeweils bei der Orientierung. Wo so mancher Sehende den Überblick verlieren würde, bleibt Ursula sicher.
In der Oase schenkt ihr die barrierefreie Umgebung die Freiheit, ihren Alltag eigenständig zu gestalten. Mit Unterstützung der Spitex, die flexibel auf ihre Bedürfnisse eingeht, kann Ursula Dinge tun, die sie lange für unmöglich hielt. «Nie hätte ich geglaubt, dass ich wieder allein leben kann», sagt sie heute voller Dankbarkeit. Ursula erlebt die Oase und die Menschen in Rümlang als besonders hilfsbereit. Ob der Fahrlehrer aus der Umgebung, der sie sicher über die Strasse begleitet, die Migros-Mitarbeitenden, die sie bis zum Gehsteig bringen, oder Passanten, die ihr Unterstützung anbieten – stets findet sie helfende Hände. Dabei hat sie sogar schon Telefonnummern ausgetauscht und sich zu einem Kaffee verabredet.
Ursula hat einen Wunsch: «Ich möchte, dass man zuerst mich sieht, Ursula, den Menschen – nicht die Behinderung.» In ihrem «Dörfli» hat Ursula genau diesen Wunsch Wirklichkeit werden lassen. Hier zählt sie als Mensch, als Nachbarin, als Freundin. Ursula hat hier nicht nur ein Zuhause gefunden, sondern auch eine Gemeinschaft, die sie schätzt und inspiriert. Mit ihrem Mut und ihrer Lebensfreude zeigt Ursula uns, dass Grenzen oft nur im Kopf existieren.